Pfr. Heinrich Lebrecht (1901-1945)

Pfarrer Heinrich Lebrecht widersteht der Gewalt gemeinsam mit seiner Kirchengemeinde Groß-Zimmern

Seine Tochter Marianne erinnert sich

Gewalt in der Kirche, gibt es das überhaupt? Es herrschte Gewalt in der Kirche des Dritten Reiches, ausgelöst vor allem durch die damaligen Kirchenführer der Deutschen Evangelischen Kirche. Eine Form der Gewalt erlebte die Bevölkerung, indem Menschen in Massen versammelt wurden, um irreführende Reden von damals bedeutenden Parteigenossen direkt oder durch das Radio zu hören. Gewalt äußerte sich in diesen Reden darin, dass Unwahrheit als Wahrheit erklärt wurde. Auf der negativ berühmten Sportpalastkundgebung der „Deutschen Christen“ in Berlin hielt Dr. Krauße als „Deutscher Christ“ die Rede.

Was konnte man dieser Form der Gewalt gegenüber vor etwa 15000 anwesenden Hörern tun, fern von Berlin? Was tat Pfarrer Lebrecht? Er hatte den „Sonntagsgruß“, eine Zeitschrift, gegründet, die jeden Samstag für die Kirchengemeinde Groß-Zimmern herauskam. Herausgeber war Pfarrer Lebrecht. Es wurde jetzt, 1933, besonders entscheidend , dass die Gemeinde echte Informationen erhielt. Sachgemäße Information ist eine Hilfe gegen Gewalt. Pfarrer Lebrecht setzte sich in der Zeitschrift „Sonntagsgruß“ unter anderem mit der Sportpalastrede kritisch auseinander. Er schreibt darin: „Dieser Vertrauensmann der Deutschen Christen hat die Bibel in seiner Rede beschimpft und das Alte Testament ein <Buch der Zuhälter und Viehtreiber> genannt. Die Versammlung von 15000 Menschen hat diese Rede des Dr. Krauße mit Begeisterung aufgenommen und eine entsprechende Entscheidung gefasst. Daraus folgt, dass die <Glaubensbewegung Deutsche Christen> offenbar sehr stark von einem Geist beeinflusst ist, der dem Neuen Testament nicht entspricht. Denn Jesus hat gesagt, dass kein Jota von Gottes Wort im Alten Bund aufgehoben ist. Wenn an führender Stelle einer Glaubensbewegung Männer stehen, die dem Evangelium so fern stehen, dann stimmt das sehr bedenklich.“

(Sonntagsgruß vom 10. Dezember 1933)

Das zweite Beispiel aus der Geschichte der Gemeinde Groß-Zimmern soll von der Entstehung der „Bekennenden Kirche“ in Groß-Zimmern handeln, die im Kampf gegen die Politisierung der Evangelischen Kirche im Dritten Reich entstand. „Verschweigen oder kämpfen?“ so nennt Pfarrer Lebrecht seine Veröffentlichung im Sonntagsgruß, in der er begründet, warum und mit welchen Folgen er im Gottesdienst des 28. Oktober 1934 die „Dahlemer Botschaft der Zweiten Bekenntnissynode“ vom 20. Oktober 1934 verlesen hat.

Pfarrer Lebrecht
Cover des Buches: „Verschweigen oder Kämpfen – Ein Pfarrer und seine Gemeinde im Kirchenkampf 1933 bis 1945“ von Marianne Lebrecht

Die „Bekennende Kirche“ war entstanden als absolute Gegenkirche zu den „Deutschen Christen“. Pfarrer Lebrecht unterstellt sich damit vor der Gemeinde öffentlich der „Synode der Bekennenden Kirche“ und sagt sich von dem deutsch-christlichen Reichs- und Landeskirchenregiment los. In dem Artikel „Verschweigen oder kämpfen“ beschreibt er den Entscheidungskonflikt, dem jedes Mitglied der evangelischen Kirche sich durch den Beschluss der Dahlemer Synode zu stellen habe. Er erklärt, warum er sich gegen „Verschweigen“ und für „Kämpfen“ entschieden habe. Er fragt die Gemeinde: „Willst du eine Kirche der Gewalt? Sollen die Pfarrer zu diesem Unrecht schweigen? Oder meinst du, es sei Pflicht der Pfarrer, dass sie Unrecht Unrecht heißen und ihm wehren? Willst du, dass in der evangelischen Kirche die Rechtlosigkeit triumphiert? Sollen die Pfarrer zu alledem schweigen, als ob nichts geschehen wäre? Willst du eine Kirche, in der man es mit Treue und Wahrhaftigkeit nicht genau nimmt? Oder sollen die Pfarrer dazu schweigen, wenn gegen Treue und Glauben verstoßen wird?“ Am Abend des Tages der Verlesung der „Dahlemer Botschaft“ im Gottesdienst hält Pfarrer Lebrecht einen Bittgottesdienst in der Kirche, in dem die Gemeinde über die „28 Thesen der Deutschen Christen“ kritisch informiert wird. Am Sonnabend, dem 03. November 1934, teilt der Dekan Pfarrer Lebrecht telefonisch die amtliche Nachricht mit, der Landesbischof habe ihn seines Amtes enthoben und ihm jede Amtshandlung untersagt. Damit beginnt in Groß-Zimmern das Werden der Bekenntnis-Gemeinde. Pfarrer Lebrecht führt sein Amt fortan im Auftrag der Bekennenden Kirche aus.

Am Reformationssonntag, dem 04. November 1934, predigt Pfarrer Lebrecht :

„Die Gemeinde darf allein auf die Stimme des Hirten Jesus Christus hören.“(Joh. 10,1-6) Die Kirche ist überfüllt. In diesem Gottesdienst wird die „Barmer Erklärung“, die Grundlage der „Bekennenden Kirche“, verlesen. Am Schluss des Gottesdienstes fordert Pfarrer Lebrecht die Gemeinde auf: Wer sich der „Bekennenden Kirche“ anschließen will, solle dableiben und sich in die Liste eintragen, die auf dem Altar ausgelegt sei. Unter Vorantritt des Kirchenvorstandes kommt nach dem Gottesdienst einer nach dem anderen zum Altar und schreibt sich in die dort liegende Liste ein. Nur zwei Personen hatten den Gottesdienst verlassen, darunter die Polizei. Die Gemeinde schloss sich mit überwältigender Mehrheit der Bekenntnisgemeinde an. Warum regierte nicht Angst vor Bestrafungen, Herabsetzungen, Berufsverboten in der Gemeinde? Mut kennzeichnet das Verhalten der sechs Kirchenvorsteher. Einer, der Bürgermeister, war am Abend vor dem Gottesdienst aus dem Kirchenvorstand ausgetreten. Der Kirchenvorstand trug durch seinen Mut entscheidend dazu bei, dass die Gemeinde sich nicht fürchtete, sondern es wagte, öffentlich aufzutreten und sich nicht zu scheuen, zu ihrer Zugehörigkeit zur Bekenntnisgemeinde zu stehen. Ging es Pfarrer Lebrecht und den Gemeindemitgliedern so, wie eine ehemalige Konfirmandin Pfarrer Lebrechts es mir erzählte, bezogen auf ihre eigene Geschichte. „Ich nahm mir ein Beispiel an Deinem Vater, er wurde verfolgt, missachtet, aber er hat niemals mit gleichen Waffen zurückgeschlagen. Mir kam es vor, als habe er eine übernatürliche Kraft. Pfarrer Lebrecht war für mich ein Vorbild, er hatte es schwerer als ich. Das gab mir Stärke und Mut für mein Schicksal.“ Mit der „übernatürlichen Kraft“ ist der feste Glaube an die Botschaft Jesu Christi gemeint. Marianne Lebrecht

1944 wurde Pfarrer Lebrecht zur Zwangsarbeit bei der Organisation Todt dienstverpflichtet. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau ließ ihn und seine Familie wie andere Pfarrer, die Juden oder Mischlinge ersten Grades waren, im Stich. Er starb 1945 infolge mangelhafter medizinischer Betreuung, nachdem er während eines Luftangriffs verwundet worden war.

Wer mehr über das Leben und Wirken Pfarrer Lebrechts wissen möchte, lese das Buch seiner Tochter Marianne „Verschweigen oder kämpfen“. Ein Pfarrer und seine Gemeinde im Kirchenkampf 1933 bis 1945

Marianne Lebrecht schildert die Geschichte ihres Vaters, des Pfarrers Heinrich Lebrecht. Pfarrer Lebrecht war während des Nationalsozialismus Pfarrer der Bekenntnisgemeinde Groß-Zimmern. Zusammen mit seinem Kirchenvorstand und der Mehrheit seiner Kirchengemeinde stellte er sich mutig den staatlichen und offiziellen kirchlichen Stellen entgegen. Als Mitglied der Bekennenden Kirche und als Sohn eines Juden, der als junger Mann Christ wurde, hatte er mit doppelten Schwierigkeiten zu kämpfen. Seine Tochter recherchierte in Dokumenten, befragte Zeitzeugen und lässt die Leserinnen und Leser an dieser spannenden und eindrücklichen Geschichte aus der Zeit des Kirchenkampfes teilhaben.


Michael Fornoff
Michael Fornoff